The Streets

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Mike Skinner ist der coolste Popstar, den das urbane England der letzten Dekade hervorgebracht hat. Mit seinen fünf Alben hat er einen Zyklus erschaffen, der soeben von »Computers and Blues« nicht nur abgeschlossen, sondern auch gekrönt wurde. Sein drogengeschwängerter Cocktail aus Garage-Riddims, Rave-Attitüde, HipHop-Technik und Offbeat-Storytelling aus dem Leben eines ganz normalen Slackers hat eine komplette Generation begleitet. Von seinen UKG-Wurzeln bewegte sich Skinner auf seinen Platten immer weiter in Richtung traditionellen Songwriting-Handwerks, in Zukunft ­möchte er sogar nur noch für andere Künstler schreiben und produzieren – und Drehbücher ­verfassen. JUICE-Redakteur Ndilyo Nimindé erinnert sich an zehn Jahre The Streets.

Die Nullerjahre sind noch ganz frisch. Roc-A-Fella ist ganz oben, der Süden kommt langsam nach, HipHop wird gefeiert. Dennoch giert der stets nach Neuem dürstende Jungspundverstand nach unbekanntem Material, das einen vom Rest der Klasse oder des Semesters unterscheidet. Denn neben den legitimen Rap-Stars ist zur Zeit ein gewisser Herr Rule mit Liebesliedern Dauergast in den Charts. Also schalten wir freitags das Radio an und lassen den Sender der in Deutschland stationierten britischen Truppen laufen. Wir mögen 2Step und Garage, und möglicherweise kommt da doch noch etwas, dass nicht nach den nervtötenden Weichspülern klingt, die in jedem Plattenladen und jeder nach Haargel riechenden Cocktail-Lounge zu finden sind. Doch dem ist nicht so, also schalten wir das Radio aus und widmen uns wieder com »Pro Evolution Soccer«.

Ein Kollege hat nach einem London-Trip diese CD mit dem hübschen Mehrfamilienhaus auf dem Cover mitgebracht. Soll er mal reinlegen, schaden kann es ja nicht. Die Streicher von »Turn The Page« lassen unsere Öhrchen erstaunt aufhorchen, doch plötzlich fängt ein irritierender Tommy an zu labern. Zurück zur Konsole. Der nächste Song beginnt. Der Beat geht schon mal gut rein, dann ertönt auch noch ein Vocal-Sample, alles erinnert ein wenig an Artful Dodger, aber positiv.

Vocal-Samples erwärmen unser Herz, so war es schon immer und so wird es immer sein. »Has it come to this?«, fragt da einer, darauf folgt viermal »oh« in jeweils leicht gesteigerter Tonalität. Wahnsinn. Aber der Dude, wie redet der denn? Nichts gegen einen amtlichen Mockney-Akzent, doch im Takt muss das Inselgelaber schon ­vorgetragen werden. Oder wenigstens nur so eine kleine Idee hinterher wie bei MC Dynamite auf den Roni Size-Dingern. Was soll das hier?

Ein neues OCB-Blättchen muss her, aus dem Flyer wurden schon so viele genau 1,5 cm breite Streifen abgerissen, dass sich nicht mehr erkennen lässt, von welcher Party er eigentlich stammt. Passt schon. »Hast du das gerade verstanden?« »Die Beats klingen irgendwie nach Todd Edwards.« Husten. »Shit, das Chillum ist auf den Teppich gefallen. Was hast du gesagt?« »Todd Edwards, das klingt wie Todd Edwards, halt viel entspannter und anders, aber du weißt, was ich meine.» »Nee, find ich nicht, eher wie Zed Bias. Aber auch nicht wirklich. Das könnte auch von DJ Luck sein, bisschen langsamer halt.« »Mach noch mal von vorne.«

»We got diesel or some of that homegrown/sit back in yer throne, turn off yer phone, ’cos this is our zone.« Der redet genau über das, was wir eigentlich jeden Tag und vor allem jedes Wochenende machen. Bei demjenigen treffen, der gerade sturmfrei hat oder schon alleine lebt. Das Nordlicht aufbröseln und in Origamikunstwerke verwandeln, alte »Yo! MTV Raps«-VHS-Tapes anschauen, die nächste Party an Land ziehen und versuchen, am Ende des Besäufnisses ja nicht alleine daheim, sondern im besten Falle bei der Volleyballerin mit den geschickten Armen aus dem Physik-Kurs zu landen. Der ganz normale Scheiß eben. Viel näher an dem eigenen Leben als die alten New York-Sachen aus den Neunzigern. Und verdammt noch mal viel näher als die Millionärs- und Kingpin-Geschichten aus dem neuen New York oder die seltsamen Tapes von den Schreihälsen aus dem Süden mit ihren abartig hässlichen Covern, die der Homie vom Austauschjahr in North Carolina mitgebracht hat.

»Mach noch mal von vorne.« Um die Platte nicht mehr zu mögen, ist es nun zu spät. Sie läuft bereits zum fünften Mal durch, ohne dass wir es gemerkt hätten. »It’s Too Late«, was ist das, was fühle ich da gerade, während ich meinem Kumpel das dritte virtuelle Tor an diesem verrauchten Dienstagnachmittag verpasse? Ich fühle, ja: ich fühle den Song, obwohl der Kerl im Chorus konsequent an jeder Note vorbei singt.
Genauso ging es mir doch auch neulich, als ich das bei dem einen Mädel grandios und mit Riesenanlauf verkackt habe, bevor es auch nur annähernd losging. Das Album lässt uns nicht mehr los. Dabei hat Skinner eine Stimme, die man eigentlich nur als tolerante Mutter lieben kann und ein Gesicht, das höchstens für eine Radioshow im Offenen Kanal Osnabrück reichen würde. Dennoch trifft er haargenau ins Herz aller Jungs und Mädels mit latentem Hang zu drei bis zwölf Drinks zu viel und einem beinahe ungesunden Interesse für das Regal der Nachbarsapotheke.


The Streets – Weak Become Heroes von bonobo635

Er kam genau richtig. Genau wie »Weak Becomes Heroes«, der wahrscheinlich beste Song von »Original Pirate Material«, jenem klassischen Album, von dem hier die ganze Zeit die Rede ist. Ein Tribut an all die traurigen Seelen, die jedes Wochenende überstehen, nur um sich auf das nächste zu freuen. Die sich in den Nächten von Donnerstag bis Montag von schwächelnden Verwaltungsangestellten in waghalsige Nightlife-Legenden verwandeln. Eine Platte, wie es sie nur einmal geben kann. Und eines der besten Beispiele dafür, dass man es im Falle des Genervtseins einfach besser als der Rest machen muss, um die Sache ins Rollen zu bringen: »You say that everything sounds the same, then you go buy them/there’s no excuses my friend, let’s push things forward!«

Da ist sie also: Die Platte, die sich anders anhört als alles bisher Gekannte. 2Step Garage, HipHop, Reggae, Pop, House und deine Mutter, alles auf einem Langspieler vereint, mit den detailverliebtesten und gleichzeitig simpelsten Texten, die man sich vorstellen kann. Die perfekte Jungsmusik. Bart Simpson sagte einst: »Teenager in eine depressive Stimmung zu versetzen, ist wie Fische aus einem Fass zu angeln.« Genauso verhält es sich wohl mit Jungs, die sich von den Erzählungen des exzessiven Lifestyles magisch angezogen fühlen. Der Aufstieg, der Ruhm, die Abstürze. Alles mit Ansage. Wir lieben so was. Neben der unfickbaren Produktion des Albums sind es vor allem die Texte, die The Streets ewige Daseinsberechtigung sichern.

Ein relativ unerwartetes Ereignis nach dem Erscheinen der LP ist der immense Erfolg dieser eigentlich extrem verbraucherunfreundlich aufgestellten Platte. Der aus Birmingham stammende, mittlerweile in London lebende Skinner gewinnt Preise, tourt um die Welt, wird sehr schnell sehr reich und prägt den Begriff des »Bedroom Producers«. Denn im Schlafzimmer ist sein fantastisches Debütalbum entstanden. Seine Zeilen finden den Weg in die Hörsäle der britischen Universitäten, er wird zum Sprachrohr und zur Ikone der Tony Blair-Jugend ausgerufen und lebt das schnelle Leben. Zwei Jahre später folgt »A Grand Don’t Come For Free«, ein Konzeptalbum, das diesem Titel mehr als gerecht wird. Der versierte Storyteller setzt textlich noch mal einen drauf, liefert ein Gesamtwerk ab, das vom Anfang bis zum Ende eine in sich geschlossene Geschichte mit zahlreichen Nebenschauplätzen erzählt. Gleichzeitig funktioniert jeder Track perfekt als einzelnes Statement.


The Streets – Fit But You Know It von shairo>

Die Geschichte ist einfach: Der Protagonist verliert 1.000 Pfund und versucht nun über verschiedene Irrwege, wieder in den Besitz des Geldes zu kommen. Ein ganz und gar großartiges Album. Die mehr als sportlichen Ambitionen, ein derartiges Konzept in Albumform umzusetzen, hätten viele Künstler zum Scheitern gebracht. Doch Skinner meistert es auf eine beinahe frech unangestrengte Art und Weise. Die eigene Spielsucht wird auf »Not Addicted« charmant und augenzwinkernd thematisiert, »Blinded By The Lights« ist der wohl rührseligste und nachvollziehbarste Track über die Vor- und Nachteile eines Rave-Cocktails. Nach »Fit But You Know It« wäre man sogar beinahe versucht, die grölenden Prollbriten in den Pubs doch nicht so unsympathisch zu ­finden. Aber auch nur beinahe.

»A Grand Don’t Come For Free« ist ein Album wie ein Roman. So lässig vorgetragen und bebildert, so sinnstiftend und verständlich. Und dann auch noch auf einer Style-Ebene, die der Rest der Konkurrenz kaum erahnen kann. Perfektes Ding, nach JUICE-Maßstäben ein klares Sechs-Kronen-Album. Doch das Runterkommen wird immer lästiger, all der Spaß und das wilde Leben machen müde, die Wodkas zum Frühstück, die Zigarettenschachteln voller Spliffs, die mit Mehl bestäubten Glastische, die Dauer­smileys und der Mitsubishi-Fuhrpark können auf Dauer belastend und schweißtreibend wirken. Selbstreflektion ist wichtig. Das erkennt auch Mike Skinner.

Die logische Konsequenz ist ein Album über die andere Seite der Afterhour-Medaille. Die richtigen Worte der Titel waren schon immer Skinners Stärke und so hört der dritte Wurf auf den wunderbaren Namen »The Hardest Way To Make An Easy Living«. Eine ernste LP. So denkt er in den Tunes offen darüber nach, dem eigenen, als sinnlos empfundenen Leben ein Ende zu setzen. Es wird klar, dass Einfallswinkel gleich Ausfallswinkel ist. Ein zweiwöchiger Ibiza-Trip mit den Mates und 100.000 Pfund Taschengeld zum Nasepudern sind schmerzhaft für das Seelenheil. Der eigene Lebensstil wird angezweifelt, die Affären mit Crack rauchenden Popstars, die Ausraster, das Geldverprassen, die Spielsucht. Alles tut weh und muss raus.

Wieder vergehen zwei Jahre. Der normale Arbeitsturnus von Mike Skinner bedingt ein neues Album. Und auch der vierte Langspieler »Everything Is Borrowed« schlägt nachdenkliche Töne an. Von den Ozeanen der Selbsttherapie reingewaschen, geht es nun den elementaren Dingen an den Kragen. Echte Themen wie das Leben nach dem Tod oder Umweltschutz stehen auf der Tagesordnung. Welcher Sprechgesangskünstler hat schon einen Song über einen im Jahre 1690 ausgestorbenen, flugunfähigen Vogel namens Dodo im Repertoire? Vielen Kritikern und Fans ist das Album zu schlicht, es käme nichts Neues aus dem Hause Skinner. Scheinbar übersehen viele, dass mit »The Escapist« einer der zauberhaftesten und glanzvollsten Songs der neueren Popgeschichte enthalten ist: »I’m not full of fear, cause I’m not really here, I’m nowhere near.« Wer spricht so was denn sonst bitte aus?

Mit Mike Skinner wurde der Welt ein Künstler geschenkt, der wie alle Großen seiner Zunft alles verändert und über den Haufen geworfen hat. Beim Erscheinen von »Everything Is Borrowed« war bereits klar, dass die Hoch- und Tiefbauten bald eingestellt und The Streets als solches wohl nicht mehr lange existieren würden. Skinner sprach bereits in damaligen Interviews offen vom letzten und den The Streets-Zyklus abschließenden Werk »Computers And Blues«, das schneller, härter und clubtauglicher werden solle.

Er fühle sich nicht wirklich alt oder ausgelaugt, der Gedanke an weitere The Streets-Alben oder allein an den Namen lasse allerdings starke »Nein-Gefühle« in ihm wachsen. Nicht zuletzt habe Skinner bereits bei Unterzeichnung seines Plattenvertrages das Konzept einer zehnjährigen Bandkarriere mit fünf Alben im Kopf gehabt, die man nach Ende des Projektes wunderbar als 5-CD-Box verkaufen könne. Wer mochte es ihm verdenken? Böse konnte man wirklich nicht sein, denn auch wenn nicht jedes Album bahnbrechend war, so gab es kein einziges darunter, das man einen Ausfall nennen könnte.

Was waren wir aufgeregt, als »Computers And Blues« endlich vor der Tür stand. Skinner hatte sich in den letzten Jahren mit wenig kommerziellem Erfolg als Labelchef von The Beats um die Evolution des britischen Grime verdient gemacht, er hatte sich als Podcast-Betreiber (»Beat Stevie«), Remixer und Schauspieler verdingt. Doch wir wollten ihn endlich wieder Musik machen hören. Vorab erschien mit »Cyberspace And Reds« ein Mixtape via Twitter, das von Kano über Wiley bis Jammer eine Wagenladung Grime-Ikonen featurete und musikalisch tatsächlich auf die Beschreibung passte, die Skinner in Vorab-Interviews zu »Computers And Blues« abgegeben hatte.

Doch das Album folgte dann einem anderen Konzept: Es sollte sich mit den Zusammenhängen zwischen neuen Technologien und zwischenmenschlichen Gefühlen auseinandersetzen. In einer Zeit wie dieser. Eine Zeit, in der es Menschen gibt, deren Job es ist, Facebook-Seiten zu pflegen und die damit auch noch gutes Geld verdienen. Und das von einem Mann, der bereits 2003 eine EP zum Download freigegeben hatte und ohnehin dafür bekannt war, ein extrem empfindliches Gespür für neue Promotion- und Medienwege zu haben.

Der Interviewtermin stand, die Fragen waren notiert. Nicht einmal 24 Stunden vorher die E-Mail vom Label: »Mike sagt alles ab.« Auf der Band-Homepage ein Bild eines geschlossenen Geschäfts mit der simplen, schmerzhaften Aufschrift »closed«. Ein letzter, instrumentaler Titel auf der Website mit dem Titel »Close The Book«.

The Streets – Close The Book by Hypetrak

So typisch und klar, dass es fast schon weh tut, dass der erste Song auf »Original Pirate Material« auf den Namen »Turn The Page« hört. Ein letzter Viral-Clip in den Hallen einer großen britischen Tageszeitung. Er sei raus aus dem Musikspiel, so Skinner lapidar. Auch das Album gehöre bereits vergangenen Tagen an, da es schon seit einem Jahr fertig sei, das Label habe es lediglich unter Verschluss gehalten, um für mehr Gerede zu sorgen.

Doch all das ist egal in dem Moment, als wir »Computers And Blues« zum ersten Mal hören. Das Album beinhaltet alles, was wir in zehn Jahren The Streets lieben gelernt haben. Die Club-Elemente, die um 100 Ecken gedachten Texte, das immer perfektere Songwriting. Natürlich wissen wir, dass Google nicht wirklich dabei hilft, uns bestimmter Gefühle bewusst zu werden. Auch dass »ins Bett gehen« nicht mit »Facebook-Status checken« gleichzusetzen ist. Doch wenn und besonders wie Mike es uns mitteilt, macht einfach Sinn. Das Verbraten eines GarageBand-Samples in »Outside/Inside« ist eine zynische Hommage an den Drumloop von Rihannas »Umbrella«, der ebenfalls dem auf jedem MacBook vorinstallierten Apple-Programm entnommen wurde. Gleichzeitig fordert Skinner den Hörer auf, es mit dem Abbrennen von Kräuterzigaretten nicht zu übertreiben, ohne den bitteren Zeige­finger zu heben. Das soll ihm erst mal einer nachmachen. »But I can’t find it because I like blazing! Solving that problem can be quite amazing«

»The world is outside, but inside warm/inside informal, outside stormy, but inside normal.« Eine große Platte und ein mehr als würdiger Abgang. Eine Tour ist geplant, also wird es noch eine kleine Weile dauern, bis wir wirklich »Farewell« zu The Streets sagen dürfen. Und wenn ein derart begabter Lyriker androht, künftig Drehbücher für Filme verfassen zu wollen, kann man eigentlich ganz beruhigt auf das Ergebnis warten. Auf YouTube erscheint zur Promotion des Albums noch ein episodischer, interaktiver Film, in dem man Mike Skinner durch einen typischen Tag in seinem Leben begleiten darf: Aufstehen oder liegen bleiben? Alleine essen oder zu den arbeitslosen Nachbarn rübergehen und teilen? Die Jungs anrufen und zum Fußball oder in den Pub gehen? Oder das Mädchen anrufen und sich im Auto streiten, um schließlich die versöhnende Sportzigarette gemeinsam zu rauchen?

Mike Skinner gehört zu den großen urbanen Songwritern des letzten Jahrzehnts. In dieser Eigenschaft ist er in einer direkten Linie mit Styler-Kumpanen wie Kanye West und Pharrell Williams zu verorten. Nur, dass er uns immer ein klein wenig näher war als die übermächtigen Amerikaner. Von seiner Sozialisation durch britische Rave- und Piratensenderkultur über die egomanische Hipster- und Drogenphase bis hin zur existenzialistischen Versöhnung mit Menschheit, Natur und den eigenen Wurzeln sind wir Mike Skinner immer gerne gefolgt.

»I came to this world with nothing/and I’ll leave with nothing but love/everything else is just borrowed.«

Text: Ndilyo Nimindé

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