»Ich will die Hörer auf eine Reise in meine Gegend mitnehmen, so dass sie durch meine Augen sehen können.« // Pill im Interview

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Wir leben in einer Ära, in der ein YouTube-Video die Karriere eines ­Rappers abrupt lostreten oder jäh beenden kann. Charles Hamilton kassierte on camera einen Haken von ­seiner Exfreundin und wurde fortan zum Gespött der Blogger-Herde, Pill aus Atlanta hingegen katapultierte sich mit seinem ­ultrarealistischen Hood-Video zu »Trap Goin’ Ham« überhaupt erst ins Bewusstsein der Szene. Der ­Spucker aus dem berüchtigten 4th Ward verbindet Hood-Authentizität mit wütender Sozialkritik und wird neben ­Freddie Gibbs, The Kid Daytona und J Cole als der MC bezeichnet, den man für 2010 im Blick behalten sollte. Nach zwei Mixtapes soll im nächsten Jahr sein reguläres Debütalbum “The Medicine” erscheinen. Pill ist mehr als bereit, der Welt seine Geschichte zu erzählen.

Wie lange rappst du schon und wer war deine Inspiration?
Ich rappe seit dem Kindergarten. (lacht) Als ich in die High School kam, wurde es langsam ernst. Ich habe mir vorgenommen, mein Talent zu nutzen, anstatt Verbrechen zu begehen. Mit 15, 16 Jahren haben mich Künstler wie Tupac, Biggie, Outkast, Scarface, UGK, 8Ball & MJG, Wu-Tang Clan, N.W.A. und Ice Cube beeinflusst. Ihre Musik hatte eine Bedeutung für mich, weil ich in einer abgefuckten Nachbarschaft in einer abgefuckten Gesamtsituation aufgewachsen bin. Dieser Zustand ließ mir keine Wahl: Ich musste in meiner Musik über meine Umgebung sprechen, weil ich ihr ­Produkt bin.

Du hast bereits einen amtlichen Mixtape- und Internet-Buzz. Dein erstes Album ist für 2010 ­angekündigt. Was erwartest du dir davon?
Das Game ist voller Hoffnung und Wünsche. Man macht Musik und hofft, dass die Menschen sie mögen. Man wünscht sich natürlich auch, ­etwas Geld damit zu verdienen. (lacht) Ich will, dass mein Debütalbum mich dem Publikum vorstellt. Ich werde jetzt nicht behaupten, dass es das beste Album aller Zeiten wird. Ich will einfach nur, dass ein paar Menschen es mögen. Ich arbeite hart dran, ich gehe jeden Tag ins Studio, und wenn das Ergebnis ankommt, bin ich glücklich. Ich kann ohnehin nichts anderes machen als das, was ich am besten kann.

Warum lautet dein Rap-Name Pill?
Ach, das kommt vom Football. Als Spieler nannte man mich “The Pill”. Der kleine Bruder von Witchdoctor, der später leider in einem ­Unfall umkam, verpasste mir diesen ­Spitznamen. Als ich mit der Musik ­anfing, sagte ich dann allen: “Ich bin die Pille, ich bin die Medizin.”

Aus welcher Gegend von Atlanta stammst du?
Ursprünglich von der Westside, aber ich bin viel umgezogen, habe in ­Englewood und Bankhead gelebt. Meine Mutter war drogenabhängig. Seit ich sieben Jahre alt war, bin ich mit ihr herumgezogen und habe so ziemlich jeden abgefuckten Teil von Atlanta gesehen. Wir sind mal hier, mal dort geblieben – ich wusste nie wirklich, was es bedeutet, ein Heim zu haben. Gleichzeitig habe ich mir durch diese Lebensweise auch eine gewisse Anpassungsfähigkeit antrainiert. Ich bin ein Chamäleon, das sich an alle äußeren Umstände adaptieren kann.

In diesem Jahr konntest du ­einen echten Internet-Hype kreieren. Wie viele Labels haben sich ­seitdem bei dir gemeldet?
So einige. Ich habe ja auch nichts dagegen, ein Teil der Maschinerie zu werden, aber die Bedingungen müssen stimmen. Sie müssen meinen Geschäftspartner und mich als Firma respektieren, weil wir Künstler auf eine Art und Weise promoten und vermarkten, von der die großen Labels keine Ahnung haben. Wir sind eine Zwei-Mann-Armee. Die Majors müssen respektieren, was wir unabhängig geschaffen haben. Sie müssen mich als kreativen Künstler und als ­Geschäftsmann respektieren. Ich will keinen dieser üblichen Deals, mit denen sie die Landeier verarschen. Sie werden mir einen Labeldeal geben oder eine andere Form von Partnerschaft anbieten müssen, die für mich auch finanziell Sinn macht. Ich sehe das größere Bild. Ich will keine Marionette sein, dafür bin ich zu intelligent. Mein Geschäftssinn sagt mir: Warum sollte ich das tun? Auf der Straße habe ich gelernt zu hustlen, und jetzt hustle ich eben unter Menschen, die Anzüge tragen. Na und?

Andre3000 und Killer Mike haben dir schon öffentlich Props ­gegeben. Wie fühlt sich Lob von solcher Stelle an?
Sehr gut, weil das wie ein Ritterschlag ist. Beides sind MCs, die seit Jahren für ihre Lyrics respektiert werden. Daher hat mir ihr Lob einen gewissen Schub an Zuversicht gegeben, denn es zeigt mir, dass ich auf dem richtigen Weg bin. Ich fühle keinerlei Druck, denn ich bin einfach ich selbst und bewege mich einfach immer weiter auf meinem Weg.

In New York hast du kürzlich im CMJs gespielt. Bei »Trap Goin’ Ham« ist die ansonsten zurückhaltende New Yorker Crowd ­­richtig an die Decke gegangen…
Worte können das Gefühl nicht beschreiben, so viel Liebe von den Menschen zu bekommen. Weißt du, Atlanta ist cool, aber New York ist wählerisch. Von daher fand ich es schön zu sehen, dass sie mir überhaupt zuhören. Es bedeutet mir noch mehr, dass sie mich dort sogar feiern. Wahrscheinlich werde ich meinen Kindern, sofern ich eines Tages welche habe, noch die Geschichte erzählen, wie ihr Daddy damals nach New York gegangen ist und dort mit offenen Armen auf der Bühne empfangen wurde. Für mich ist Anerkennung wie eine Droge, es ist ein ­Adrenalinrausch. Du weißt ja vorher nie, was passiert, wenn du auf die Bühne gehst. Und dann stehst du im CMJs, und die Leute rappen deine Lyrics mit. Das bedeutet mir mehr als alles Geld der Welt.

Gleichzeitig hat Freddie Gibbs im SOBs gespielt und wurde von der Security von der Bühne geführt, weil er im Club geraucht hat. Dann hast du einen Teil deiner Spielzeit im CMJs an Freddie abgegeben, damit er sein Set beenden kann. Wie würdest du deine Beziehung zu ihm beschreiben?
Wir haben uns erst dieses Jahr getroffen, können uns aber komplett miteinander identifizieren. Wir kommen beide aus den Slums, also verstehe ich seine Musik und vice versa. Seit wir uns kennengelernt haben, war da nichts als Liebe. That’s my boy, I ride for him and he ride for me. Ich habe ihn in New York auf die Bühne geholt, weil er sein Set nicht beenden durfte, denn das macht man unter Freunden so. Wir werden ja schon häufig gefragt, wann wir ein Album oder gemeinsames Projekt machen. Aber darüber denken wir gar nicht nach. Wir haben einige Songs zusammen gemacht und ­mögen uns einfach sehr gerne.

Dein größter Hit bislang ist »Trap Goin’ Ham«. Was bedeutet diese Redewendung?
Das bedeutet, dass du einen ganzen Haufen Kohle machst. (lacht) Wenn du so viel Geld verdienst, dass du dir noch nicht mal die Schuhe zubinden kannst. Du sitzt in der Hood, wo die Ware verkauft wird, und die Kunden kommen einer nach dem anderen, um dir ihr Geld zu bringen. Letztlich habe ich den Song für die Jungs in der Nachbarschaft gemacht. Dann haben wir uns überlegt, dass wir ein Video drehen müssen. Es zeigt das ganz normale Leben hier draußen. Wir haben die Jungs von The Motion Family beauftragt, einfach mit der Kamera in unsere Gegend zu gehen und die Leute dort zu filmen. Echter geht’s nicht.

Nach deinem Mixtape »4180: The Prescription« kommt jetzt »4075: The Refill«. Hast du die Formel ­deiner Medizin darauf verändert?
Nein, es gibt wieder ein paar Freestyles und ein paar richtige Songs. Und ich habe einen Überraschungs-Track drauf, auf einem Beat, mit dem die Leute nicht rechnen werden. Aber grundsätzlich sagt ja schon der Titel »The Refill«, dass das gleiche Prinzip wie bei »The Prescription« dahinter steckt. 4180 war übrigens meine Hausnummer in den Kimberly Court Projects, bevor ich in ein Haus mit der Nummer 4075 gezogen bin. Ich will die Hörer auf eine Reise in meine Gegend mitnehmen, so dass sie durch meine Augen sehen können.

Was ist die Kernaussage deiner Musik, die du verbreiten willst?
Du musst an dich selbst glauben. Egal, in welchen Umständen du dich befindest – versuche, etwas draus zu machen. Egal, welche Probleme sich in deinen Weg stellen – lache ihnen ins Gesicht und nutze sie zu deinem Vorteil. Schule ist wichtig, Bildung ist der Schlüssel und Lesen ist fundamental. Man sollte sichergehen, dass man viel liest, so dass man seine Umgebung zu verstehen lernt und begreift, wie man sich in ihr zurechtfindet. Ich bin aus der Hood und habe trotzdem die High School abgeschlossen – ich war der erste Mann in meiner Familie, der den Abschluss gemacht hat! Man sollte so viel Knowledge wie möglich ­ansammeln. Ich habe immer noch meinen Bibliotheksausweis! (lacht) Schließlich hat Nas schon gesagt: »It was written.«

Text: Amaury “Ammo” Feron
Foto: Diwang Valdez

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