Kings of HipHop: Fugees // Features

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Fugees-The-Score-cover

Die Fugees ­haben HipHop endgültig in Pop verwandelt und ihm zwei seiner größten Stars geschenkt. Und das alles in kaum mehr als zwei Jahren. Dass wenig später der Kollaps auf eine der erfolgreichsten und ­wichtigsten Bands der Neunziger wartete, versteht sich bei ­dieser Ereignisdichte von selbst. Chronik einer ­Königsfamilie.

Es ist 9.00 Uhr morgens, als Will.I.Am seinen Aveo in LAX parkt. Er ist spät dran, Scheißverkehr, wie immer um diese Zeit. Aber er ist guter Dinge. Über MySpace hat er sich eine kleine DJ-Tour durch Westdeutschland und Holland gebucht, und er genießt diese Ausflüge nach Europa, die ihm immer wie kleine Zeitreisen vorkommen. Auszeiten von einem Bandalltag, der längst mehr von Alltag hat als von Band. Solides Geld bringen sie auch. Pennen kann er eh bei dem Kollegen in Düsseldorf, und auf dem Rückweg kann er vielleicht noch kurz im Berliner Büro von BBE abklatschen ­gehen. Mal kucken, ob ihm die Pfennigfuchser diesmal wieder Vinyl durchgehen lassen. Das letzte Ding lief ja so schlecht nicht, und wenn das mit diesem Festival in Tschechien und dem Laden in Münster wirklich klappen sollte, dürften 2.000, vielleicht 3.000 locker drin sein. Für die Jungs wäre es auf jeden Fall gut. Zwei Auftritte mussten sie wegen seines Europatrips absagen. Aber unterm Strich sind, wenn du die Tänzer und den Bus noch bezahlen musst, 5k geteilt durch drei halt doch weniger als 2k auf die Kralle. Müssen die auch verstehen, oder? Diesen unnötigen Kommentar bei Twitter jedenfalls hätte sich der Indianer echt verkneifen können… Naja, er wird das in Ordnung bringen. Sie kennen sich nun schon seit locker 20 Jahren, was sollen da schon 140 Zeichen ausrichten können. Jetzt eh erst mal Europa. Und Europa ist immer gut. Oh, krass, zwanzig nach schon, und noch nicht mal eingecheckt. Beeilung jetzt.

Es ist schwer zu sagen, wie die Welt heute aussähe, wären die Fugees nicht Mitte der Neunziger mit “The Score” über selbige gekommen. Wie kaum eine andere Subkultur lebt HipHop im Hier und Jetzt. Er kennt kein hätte, würde, könnte. Er mag keine Speku­lationen, nur Zahlen. Und die besagen: über 18 ­Millionen verkaufter Alben, sechsmal Platin in den USA, zwei Grammys, dazu mehr Radioeinsätze, als selbst die Statistikfetischisten der NBA zu zählen imstande wären. Es gab auch davor echte Rap-Stars, globale sogar. LL Cool J und die Beastie Boys in den Achtzigern, Snoop Dogg und Biggie in den frühen Neunzigern, dazwischen die unvermeidlichen schwarzen und kaukasischen Schafe aus der Schmuddel­ecke der Sellout-Logik. Aber erst die Fugees haben HipHop endgültig zu Pop gemacht – und damit Phänomenen wie Outkast, Eminem oder eben den Black Eyed Peas den Weg zum Weltmarkt geebnet. Das kann man verwerflich finden und heimlich ein paar neue Akon-Tracks to Trash moven. Man könnte aber auch einfach mal ?uestlove, Diamond D und DJ Red Alert fragen, wie die das so sehen.

Die Geschichte der Fugees beginnt nicht mit ihrem ’94er Debütalbum “Blunted On Reality”. Wer diese Band und ihre in jeder Hinsicht ungewöhnliche Geschichte wirklich verstehen will, muss früher ansetzen. Im Croix-des-Bouquets der siebziger Jahre nämlich, wo ihr späterer Frontmann und kreativer Motor Neluset Wyclef Jean in einer jener Gegenden aufwächst, die 99% aller selbsterklärten Ghettosoldaten im Game nicht einmal mit dem kleinen Zeh betreten würden. Als “Preacher’s Son” hat er es relativ gut, die Lebensbedingungen in Croix-des-Bouquets sind mit jenen in der zwölf Kilometer entfernten Hauptstadt Port-au-Prince kaum zu vergleichen. Aber das Elend ist in Haiti ebenso allgegenwärtig wie der durch Bürgerkriege und Naturkatastrophen nur noch gewachsene Revolutionärsstolz und musikalische Einflüsse unterschiedlichster Art. Wyclef ist erst neun, als er und seine Familie auf der Suche nach einem besseren Leben nach Amerika aufbrechen, sein komplettes Erwachsenenleben hat er in den Vereinigten Staaten verbracht. Und doch scheint ihm die DNA seines Heimatlandes eingeschrieben. Wie ein rot-blauer Faden zieht sie sich durch seine Musik und sein Leben: die ausführlich bemühte Kriegerrhetorik, die für Mitteleuropäer oft nur schwer nachvollziehbaren Koordinaten von Kitsch und Coolness, das Selbstverständnis in einer Traditionslinie mit Marley, Ali, Hendrix, Toussaint L’Ouverture.

Als er Anfang der Achtziger in den Marlboro Projects von Flatbush, Brooklyn aufschlägt, will er – wie jeder andere anständige frühpubertäre Bengel – von all dem allerdings erst mal nichts wissen. Er verliebt sich in Reggae, den frühen Dancehall von Supercat und Yellowman und den Lovers Rock des jamaikanischen Big-Man-Sounds Stone Love, der in Brooklyn traditionell eine riesige Gefolgschaft genießt. Die physische Wucht der Bässe, die Melodien, das Kompetitive, Rebellische, Stylishe – ein Haitianer in New York hat seine Bestimmung, seine Ersatzidentität gefunden. Lauryn Hill berichtet später einmal, sie hätte lange Zeit gedacht, Wyclef sei Jamaikaner, so exakt kopiert er den Akzent und den Slang seiner neuen Helden.

Sein Vater Gesner indes, ein Pfarrer der liberal-evangelischen, in Haiti sehr populären Kirche des Nazareners, sorgt sich um seinen Sprößling und dessen zunehmende Nähe zu den Yardies im Bush. Um ihn von dummen Gedanken abzulenken und von Ärger fernzuhalten, schenkt er ihm, so will es zumindest die Legende, eine Gitarre – und stößt damit auf fruchtbaren Boden. Nel nämlich hat längst eine Vision entwickelt, die weit über den nächsten Dopedollar hinausgeht: Er will der erste Sohn Haitis werden, der es auf die große Bühne schafft. Er will ein Publikum mitreißen, so wie Dennis Brown und Sugar Minott ihn mitreißen. Also stürzt er sich wie ein Besessener in die Musik, lernt Instrument um Instrument, bis er ein gutes Dutzend von ihnen beherrscht. Es ist dieser Entertainertrieb, der ihn nie wieder loslassen sollte – und der ihn, selbst in den finstersten Momenten als sich anbiedernder Klampfenkasper zwischen Sarah Connor und Brian Harvey, noch strahlen lässt wie einen haitianischen Karnevalszug durch den Concrete Jungle von Detroit, Michigan. Man braucht keinen Master in DSDS-Psychologie, um zu erkennen: In diesen Tagen in Brooklyn wird aus dem Einwandererjungen Nel der Rapper, Produzent, Gitarrist, Schauspieler, Soundboy, Songwriter, Geschichtenerzähler, Superstar Wyclef Jean. Nur wenige Jahre später zieht er mit seiner Familie vom brodelnden Brooklyn ins etwas beschaulichere Newark, New Jersey. Sein Wunsch nach einer musikalischen Karriere aber ist in Stein gemeißelt. Einen Plan B gibt es nicht. Dafür eine High School, den dazugehörigen Pausenhof und eine günstige bis göttliche Fügung.

Lauryn Noel Hill ist fast noch ein Kind, als sie Prakazrel Samuel Michel kennen lernt. Sie kann rappen und passabel singen. Sie ist schlau, aber boogie down. Ein bisschen schüchtern, aber selbstbewusst genug, um in die Cypher zu springen, wenn sie es für angemessen hält: ein Homegirl-Engel aus East Orange, “the fresh meat on the block”, wie sie selbst sagt. Prakazrel (sprich: Praswell) ist der Coole von der Schule. Und er ist der Cousin von Wyclef, dem noch Cooleren von der Schule. Pras stellt die beiden einander vor, und der Kas’ ist, wie der Altbaier sagt, ’bissen.

“Ich mochte sie auf den ­ersten Blick”, erinnert sich Wyclef an seine erste Begegnung mit L-Boogie. “Außerdem bin ich ein spiritueller Mensch. Ich weiß, dass nichts einfach so durch Zufall passiert. Ohne Lauryn wären die Fugees nicht das geworden, was sie heute sind. Wir hätten wahrscheinlich trotzdem Erfolg gehabt. Aber es wäre einfach nicht das Gleiche gewesen.” Was sich bei flüchtiger Betrachtung wie eine solide Phrasenschweinfütterung aus besseren Zeiten liest, ist in Wahrheit eine recht akkurate Beschreibung der Fugees-Formel. Denn auch wenn Wyclef der Motor der Band ist, so ist sie doch genau das: eine Band. Ein lebendiges, stimmiges Konstrukt aus unterschiedlichen Stimmen, Talenten, Persönlichkeiten. Selbst der später oftmals als elftes bis dreizehntes Rad am Wagen verhöhnte Pras trägt seinen Teil zum Gesamtpaket bei; sein charismatisches Badman-Timbre reibt sich perfekt an Clefs leicht nasalem Busker-Charme; immer wieder liefert er simple, aber effektive Einsätze und Punchlines. Und Lauryn, nun ja, ist Lauryn.

Zumindest später dann. Denn auch wenn die branchenübliche Praxis der Debütalbumverklärung anderes vorsieht, so ist der Erstling der Fugees – oder der Tranzlator Crew, wie sich die Gruppe anfangs und selbst auf dem Albumcover noch im Untertitel nennt – leider ein ziemlicher Murks. Wenn es in Retrospektiven und Wikipedien heißt, “Blunted On Reality” sei weitgehend unbeachtet geblieben, muss man eigentlich hinzufügen: zurecht. Der Fairness halber sei erwähnt, dass “Blunted On Reality” zwar erst Anfang 1994 erscheint, allerdings bereits im Jahr 1992 gemeinsam mit dem ehemaligen Kool & The Gang-­Saxofonisten Ronald Bell alias Khalis Bayyan fertiggestellt wurde – die großen, Maßstäbe setzenden Eastcoast-­Alben der Neunziger von Nas, Wu-Tang und Biggie, mit denen sich die Platte aus heutiger Sicht messen muss, liegen da noch in weiter Ferne. Im Feldeinsatz macht’s das allerdings nicht besser. Selbst zwei durch und durch wohl gesonnene Recherchedurchläufe bei ­Urlaubslaune und strahlendem Sonnenschein auf dem Pacific Coast Highway werfen kaum mehr ab als ein paar okaye Uptempo-Breaks, unausgegorene Hook-Ideen und tendenziell übermotivierte Wiggedy-Wiggedy-Raps zwischen Lehrbuch-Consciousness und Gun-Gewedel. Stücke wie das akustisch aufgezupfte “Vocab” oder das satt rollende “Boof Baf” zeigen zwar ein gewisses Potenzial. Im Großen und Ganzen aber erinnern die Fugees von “Blunted On ­Reality” an eine zwar Ragga-geschulte, aber ­deutlich weniger verkiffte (lies: langweiligere) Version von ­Cypress Hill. Oder an eine harmlose Variante von Onyx, ganz wie man möchte.

Nur ein Track sticht ganz deutlich heraus. Salaam Remis abschließender Remix der zweiten Single “Nappy Heads” ist all das, was die zwölf Songs davor nicht sind: originell, eingängig, ideenreich, eigenständig, funky. Runtergebremst auf 97 BPM, vermischt er westindisch aufgejazzten BoomBap mit Glühbirnen anknipsenden Popreferenzen, organische Instrumentierung mit zurückgelehnten, melodiösen Chef-Flows voller kleiner Wendungen, Gimmicks und Mini-Hooks – und liefert damit die Blaupause für den Sound, mit dem die Fugees schon wenig später die Rapwelt verändern sollten. Es ist Wyclef nicht hoch genug anzurechnen, dass er in diesem Moment die vielleicht schwierigste, mit Sicherheit aber schlaueste Entscheidung seiner Karriere trifft. Er gesteht sich ein, dass sich die Fugees über den sprichwörtlichen Holzweg in eine kreative Sackgasse manövriert haben. Er ignoriert die Empfehlungen seines langsam ungeduldig werdenden Labels Ruffhouse, entfernt Bayyan und all die anderen unnützen Einflüsterer aus seinem Umfeld, zieht sich mit einem weiteren Cousin namens Jerry “Wonder” Duplessis in den Keller seines verstorbenen Lieblingsonkels Renold zurück (das heute sagenumwobene Booga Basement) und fertigt dort eigenständig neue Versionen von “Boof Baf” und “Vocab”. Das Refugee Camp ist geboren.

Im Repertoire der Refugee-Klassiker sind die Remixe heute eher Randerscheinungen. Stücke, die dringend ­gebraucht werden, um 2003 die “Greatest Hits” aus gerade einmal zwei regulär erschienenen Alben aufzufüllen, ansonsten aber auf keinem Konzert zu hören sein werden. Für den Fortgang der Fugees-Saga jedoch sind sie wahre Meilensteine. Sie reißen nicht nur das Karriere­ruder für Clef, L und Pras herum, sondern begründen eine jener magischen Konstellationen, die HipHop immer ausgemacht haben: ein Keller, eine Chemie, ein Klassiker. In den folgenden Monaten geht alles ganz schnell. Die elf Songs des Nachfolgealbums “The Score” sind trotz der Vielzahl der beteiligten (Co-)Produzenten – von John Forté über ­Salaam Remi bis hin zu Diamond D – zügig im Kasten. Die erste Single “Fu-Gee-La” vollführt einen wahren Sturmlauf durch Hood und Hitparaden. Und selbst die Kritiker, die Lauryn nach “Blunted On Reality” noch eine Solokarriere ans Herz gelegt hatten, sind plötzlich in gespannter Erwartung.

Als “The Score” im Februar 1996 noch brühwarm erscheint, direkt auf Platz 1 der US-Charts einsteigt und damit mitten in der ersten Eskalationsstufe des Eastcoast-Westcoast-Konfliktes die Hegemonie des Gangstarap bricht, ist endgültig klar, dass eine neue Ära begonnen hat. “So while you imitatin’ Al Capone/I be Nina Simone and defecating on your microphone”, rappt Lauryn Hill auf “Ready Or Not” und bringt damit das Motto der feindlichen Fugees-Übernahme auf den Punkt: Diese Typen hören zwar Bob Marley, aber ficken sollte man mit ihnen trotzdem nicht. ­Tatsächlich wird heute gerne vergessen, dass ein Großteil der Beats auf dem vermeintlichen Über-Pop-Rap-Epos ­locker mit den damals regierenden Hardcore-­Entwürfen von Mobb Deep (“The Score”), D.I.T.C. (“How Many Mics”) und Wu-Tang (“Family Business”) mithalten können. Und auch auf MC-Ebene haben sich alle drei Fugees von weitgehend planlosen Kopisten zu ernstzunehmenden Mitbewerbern im damals noch hart umkämpften New Yorker Rapspiel entwickelt. Pras platziert sein rauchiges Rudeboy-Rah-Rah punktgenau neben den Beat. Clef kultiviert einen beschwörenden, hochvariablen Flow in klassischer Master-Of-Ceremony-Tradition. Und Lauryn, nun ja, ist Lauryn.

Wenn Wyclef auf “Fu-Gee-La” braggt: “We used to be number 10, now we’re permanent 1”, dann liegt er damit im Frühjahr 1996 zumindest nicht ganz falsch. Einzig seine später aufgestellte Behauptung, “never” zu “recyclen” (“Apocalypse”, 1997) ist eine glatte Lüge. Alle vier großen Hits auf “The Score” sind im Grunde Coverversionen oder zumindest Zeugnisse einer sehr rigorosen Auslegung der Samplekultur, neben der sich selbst Kanye West wie der Ehrenvorsitzende des Ced-Gee-Gedächtsnisvereins ausnimmt. “Ready Or Not” borgt ausgiebig bei Enya und den Delfonics. “Killing Me Softly” ist eine Neuinterpretation eines Seventies-Standards von Charles Fox und Norman Gimbel, der vor allem von Roberta Flack populär gemacht wurde, und bedient sich zudem an von der Rotary Connection gemopsten Schlüsselreizen aus A Tribe Called Quests “Bonita Applebum”. Auf “Fu-Gee-La” wird eifrig Teena Marie interpoliert. Und um die Quelle von “No Woman No Cry” zu eruieren, dürfte auch das Indiemädel aus dem Nachbarhaus nicht the-breaks.com bemühen müssen. Dreimal darf man raten, woher Puffy die Inspiration für seine Mitte bis Ende der Neunziger arg gefürchtete Recyclingmaschine bezog und damit die Popgeschichte von Britney bis Rihanna nachhaltig beeinflusste.

Man macht es sich allerdings zu einfach, wenn man “The Score” als allenfalls kurzfristig belustigenden Schwips durch alten Wein in neuen Schläuchen abtut. “Fu-Gee-La” etwa ist genau so ein Lied, wie es Jay-Z im Sinn hatte, als er im Vorwort zum Sonderheft des “Rolling Stone” über die 500 größten Songs aller Zeiten schrieb, man könne sich stets erinnern, wo und wann man diese Sternstunden des Pop zum ersten Mal gehört, wie es damals geklungen, wie es gerochen habe. Mich erwischte es in der elterlichen Mietwohnung in München-Milbertshofen. Es klang nach Kompaktanlage und roch nach Bettdecke, denn es war schon spät, und ich rief beim örtlichen Rundfunkspezialisten für R&B und Rap durch, um – vorsingend – Interpret und Titel zu erfragen. So etwas hatte ich zuvor noch nie und seitdem auch nie wieder getan. Aber für “Fu-Gee-La” täte ich es heute noch, hätte sich in punkto Unterhaltungselektronik da nicht das eine oder andere getan. Und “Killing Me Softly” erst, nicht nur lange Zeit eine todsichere Putzlichthymne bei meinen raren DJ-Binichnich-Gigs, sondern vor allem ein zeitloses Zeugnis der Größe Lauryn Hills. L war alles auf diesem Song: ruchlose Soundboy-Mörderin, Diva, B-Girl-Engel vom Block, Charakterstimme in direkter Nachfolge von Nina Simone, Minnie Riperton und Roberta Flack. Man ahnte wohlig, was da noch kommen würde. Zuerst aber war es an den Jungs, den Fugees-Fame in – mehr oder weniger – veritable Solo­karrieren umzumodeln. Dass nie wieder ein Album der aufregendsten Gruppe des Jahres 1996 erscheinen sollte, kann sich zu ­dieseem Zeitpunkt nun wirklich niemand vorstellen.

Im März 1997 erscheint “Wyclef Jean presents The Carnival featuring Refugee Allstars” in den USA. Seit der Veröffentlichung von “The Score” ist kaum mehr als ein Jahr vergangen, und entsprechend nahtlos knüpft “Carnival” an den großen Durchbruch an. Die ersten beiden Singles sind Coverversionen – wobei die Originale nicht durchgenudelter, die Ergebnisse nicht grandioser sein könnten. Gemeinsam mit der Salsa-Königen Celia Cruz nimmt sich Clef das kubanischen Nationalheiligtums “Guantanamera” an, Vorher/nachher-Spielchen inklusive. Und spätestens, wenn aus dem Käseklassiker “Stayin’ Alive” der Bee Gees ein mit Nachdruck nach vorne pumpendes Discorap-Brett wird, steht neben der Hood und Haiti auch deine Mudder auf dem Plan. Gefeaturet sind auf dem Song Pras und der 2000 unter dubiosen Umständen wegen Drogenhandels verurteilte Quasi-Fugee John Forté; auch die restlichen Mitglieder der Familie, Lauryn sowie Wyclefs Geschwister Melky und Sedeck Jean, bekommen ihren Shine auf “Carnival”. Dazu wird genau alles durch den Flashwolf gedreht, was des Meisters CD-Regal hergibt. Und das ist: genau alles. Roots-Reggae, 80s-Boogie, Dancehall und R&B, aber auch Country, Compas, Calypso, Oper, Folk, Georg Kranz und Prog-Rock. “Rap konnte ich früher nur heimlich bei meinem Onkel hören”, vertraut Clef damals dem “Rolling Stone” an. Und verrät sogleich, wie er die gestrengen Hausregeln des religiösen Vaters auszuhebeln pflegte: “Also habe ich mir alles besorgt, was nach Christian Rock klang. Die frühen Yes zum Beispiel waren sehr harmonisch, hatten viele Keyboards und Stimmen. Das hat gut funktioniert. Ich bin mit den Eagles, Phil Collins, Elton John und Pat Benatar aufgewachsen. Rockmusik war mein Ding. Pop-Rock.”

Dass das Album dennoch nicht nach Crowdpleaserie und Rüben klingt, dafür sorgt neben der Klammer des karibischen Karnevals, in dem mehr noch als in seinem Kölner Widerpart tatsächlich alles passieren kann, vor allem Wyclef selbst. Egal ob er auf Englisch oder Créole spittet, singt oder toastet, die Neville Brothers in die Booth bittet oder Bob Marleys Background-Sängerinnen, die I-Threes, das New York Philarmonic Orchestra aufstreichen oder Funkmaster Flex brüllen lässt – der Kontext dieser ganz und gar wunderbaren Weltmusik erschließt sich durch Wyclefs Präsenz und sein offensiv gelebtes Selbstverständnis. Das “Time”-Magazin schreibt: “Mit ‘The Carnival’ stellt sich Wyclef auf eine Stufe mit Billy Corgan, Trent Reznor und Tricky als eines der derzeit kreativsten Individuen in der Popwelt.”

Pras landet in dieser Zeit drei solide Hits mit Coverversionen von Eddy Grants “Electric Avenues”, Queens “Another One Bites The Dust” und “Islands In The Stream” von Kenny Rogers und Dolly Parton, das er gemeinsam mit Mya und Ol’ Dirty Bastard zu “Ghetto Superstar” umdichtet. Wobei: Wer genau da was umdichtet, wird nie letztgültig geklärt. Wer Wyclefs später geäußerter Theorie Glauben schenken mag, wonach in Wahrheit er und Jerry Wonder die Songs quasi im Alleingang erschaffen und Pras in freundschaftlicher Verbundenheit überlassen hätten, dürfte damit wohl nicht so ganz falsch liegen. Noch aber spielen diese Fragen keine Rolle. Noch scheint das Refugee Camp intakt und unbesiegbar. Noch.

Was genau in diesen Jahren zwischen Wyclef, Lauryn und Pras vorfällt, ist Stoff für Spekulation – trotz unzähliger Versuche von Klatsch-, Fach- und Fachklatschpresse, Licht ins Dunkel des Familiengeflechts zu bringen. Die heimliche Liebesbeziehung zwischen Lauryn und (dem verheirateten) Clef. Der plötzliche Ruhm. Das viele Geld. Lauryns komplexer Charakter und ihre oftmals emotionale, irrationale, aufbrausende Art. Die immer offensichtlicher klaffenden Talentschluchten zwischen Pras und seinem nicht nur im Studio dominanten Cousin. Lauryns stille Konkurrenz zu ihrem Geliebten, der von den Medien zu ihrem Unbill als das alleinige Genie der Fugees dargestellt wird, obwohl doch sie schon mit 13 an einer Karriere im Showgeschäft arbeitete. Es ist kompliziert.

Eine Weile übersteht die Band die harten ­Bewährungsproben, wahrt zumindest nach außen den Schein. Doch im Inneren bröckelt es gewaltig. Und spätestens als im Spätsommer 1998 Lauryn Hills Soloalbum “The Mis-Education Of Lauryn Hill” erscheint, bekommt die ganze Welt davon Wind. Das Album enthält nicht nur zahlreiche explizite Aufarbeitungen von Lauryns Zeit mit Wyclef und den Fugees – schon die erste Single “Lost Ones” ist eine schroffe Abrechnung mit dem als erdrückend empfundenen Bandkollegen – sondern funktioniert auch in seiner Gesamtheit als Befreiungsschlag. “Ihre Solo­karriere basiert nicht auf ‘Ich würde gerne ein Album ­machen’”, bringt es der befreundete Roots-Drummer ?uestlove auf den Punkt. “Sie basiert auf ‘Ich will nicht das Mädel an Wyclefs Seite sein’.” Und wirft dennoch mit die bewegendste, vielfältigste, schönste Musik der Neunziger ab.

Lauryn hat soeben die Arbeiten an “Carnival” und eine Tour mit unter anderem dem Refugee Camp, Busta Rhymes, A Tribe Called Quest und Cypress Hill hinter sich gebracht, als sie in ein kreatives Loch fällt. Die emotionale Achterbahnfahrt der letzten drei Jahre hat Spuren in ihrer empfindsamen Seele hinterlassen. Sie leidet an Schreibblockaden, fühlt sich müde, ausge­laugt. Bis sie herausfindet, dass sie schwanger ist. Von Rohan Marley, den sie auf besagter Tour über seinen ebenfalls als Artist mitreisenden Bruder Ziggy kennen gelernt hat. Dabei will sie anfangs nichts wissen von dem Sohn der Reggae-Ikone, sie findet ihn eher ­unattraktiv, kann ohnehin keine Ablenkung von der Gestaltung ihrer florierenden Karriere gebrauchen. Ihr Umfeld jedoch drängt sie fast in die Beziehung, denkt, es sei ein Weg, sie aus der unheilvollen Bindung zu Wyclef zu lösen. Andere munkeln, dass Lauryn in Wahrheit bis zum Tag der Geburt gehofft habe, das Kind sei von Clef, um ihn auf diese Weise endlich ganz für sich gewinnen zu können. Im Sommer 1997 aber bringt sie ihr erstes Kind mit Rohan zur Welt, einen Jungen. Sie nennt ihn Zion David Marley und schreibt für ihn das Lied “To Zion”.

Überhaupt scheint Lauryn während der Schwangerschaft nicht nur ihre Kreativität zurück-, sondern wahre Superkräfte zu gewinnen. In ihrem Keller in South Orange schreibt sie über 40 Songs, 14 davon nimmt sie für das Album auf, größtenteils in den legendären Studios des Tuff Gong in Kingston, Jamaika. Wyclefs Angebot, nach anfänglicher Ablehnung gegenüber einem möglichen Soloprojekt die gesamte Albumproduktion zu übernehmen, schlägt sie erwartungsgemäß aus. Es ist ihr Baby. Ihre Zeit. Ihr Leben. Zwar muss sie im Februar 2001 nach einem zermürbenden Prozess einräumen, dass auch eine Gruppe von vier jungen Musikern namens New Ark an der Entstehung der Stücke beteiligt gewesen ist (und diese Erkenntnis mit fünf Millionen Dollar entlöhnen). Und dennoch: Auf “Mis-Education” ist Lauryn ganz bei sich.

Neben den bereits erwähnten “Lost Ones” und “To Zion” finden sich auf der Platte weitere Instant Classics wie “Doo Wop (That Thing)”, “When It Hurts So Bad” oder “Forgive Them Father”. Eine meisterhafte Melange aus Soul, Rap, Reggae, Gospel. Eine perfekte Verbindung von tief persönlichen Texten und grandiosen Melodien für Millionen. Und nicht zuletzt eine Blaupause für die aufkommenden NeoSoul-Bewegung um das Soulquarians-Kollektiv. “The Mis-Education Of Lauryn Hill” übertrifft “The Score” noch an Erfolg. Alleine in den USA verkauft es sich acht Millionen mal, bringt Lauryn zehn Grammy-Nominierungen (mehr als je einer Frau zuvor) und schließlich fünf der begehrten Trophäen ein, darunter die für das Album des Jahres. Sie ziert die Titelseiten aller großen Magazine, arbeitet mit Nas und Mary J. Blige, verdient in zwei Jahren kolportierte 40 Millionen Dollar. Selbst Hollywood wirft sich ihr vorsorglich vor die Füße. Sie ist der größte Popstar des Universums, schön, talentiert, reich und endlich unabhängig. Glücklich aber ist sie nicht.

Neben den alltäglichen Problemen in der ­Beziehung mit Rohan, mit dem sie trotz fünf Kindern nie so recht zufrieden zu sein scheint, macht ihr genau jene Berühmtheit zu schaffen, die sie seit ihren ersten Auftritten bei Talentshows so sehr herbeigesehnt hat. Immer verkrampfter versucht sie, den wachsenden Erwartungen von Fans und Medien gerecht zu werden. Immer tiefer verzettelt sie sich in einem überzogenen Perfektionismus und einer Vorstellung von Selbstständigkeit, die längst keiner mehr nachvollziehen kann und will. Je mehr Filmrollen ihr angetragen werden, desto harscher lehnt sie die Angebote ab; je mehr Türen sich ihr öffnen, desto hysterischer schlägt sie sie zu. Sie legt sich mit Gott (oder besser gesagt: dem Vatikan) und der Welt an, kleidet sich bewusst schlampig, verlangt Geld für Interviews. 2001 nimmt sie eine “Unplugged”-Session für MTV auf, auch um das Publikum teilhaben zu lassen an ihrer inneren Qual. Sie bricht auf der Bühne in Tränen aus und verabschiedet sich öffentlich aus ihrer Rolle als “Performerin”. Sie will ehrlich sein – und wird dafür gnadenlos abgewatscht. Das zur Session gehörige “MTV Unplugged 2.0”-Album fährt Mitte 2002 zwar noch Platin ein, doch die Käufe haben mehr von Katastrophentourismus denn von echtem Hunger nach mehr. Selbst die wenigen wohlwollenden Kritiken lesen sich eher nach Mitleid denn nach Bewunderung. In diesem Moment ist die Karriere der Lauryn Hill, von der längst nicht mehr klar ist, ob sie sie überhaupt will, beendet. Den nach wie vor gültigen Stand der Recherche zu diesem Thema entnimmt man am besten dem Artikel “The Mystery of Lauryn Hill: She made one of the greatest albums of the Nineties – then what happened?” des New Yorker Journalisten und Autors Touré aus dem Jahr 2003 – und hört am besten gleich noch mal “Everything Is Everything”.

Wenn Lauryn Hill ihre Karriere tatsächlich je als Wettkampf gegen Wyclef begriffen hat, dann hat sie ihn ohne jeden Zweifel verloren. Zwar hat auch der nicht nur Punktlandungen zu verbuchen, sein Labelprojekt Clef Records etwa ging vor einigen Jahren übel baden, und viele seiner Stücke seit dem 2000er-Album “The Ecleftic: 2 Sides II A Book” sind schlicht unerträglich. Und dennoch hat er mehr erreicht, als er sich als Reggae-infizierter Bub in Brooklyn wohl zu träumen gewagt hat. Gemeinsam mit Jerry Wonder hat er Welthits für Shakira (“Hips Don’t Lie”), Carlos Santana (“Maria Maria”) und Whitney Houston (“My Love Is Your Love”) geschrieben. Er hat seine halbe Familie inklusive Ehefrau auf den Plan gebracht. Er hat insgesamt sieben Soloalben veröffentlicht und nennt Dubplate-Specials von Kenny Rogers und der Marley-Familie sein Eigen. Er hat mit Michael Jackson, Paul Simon, Gloria Estefan, Destiny’s Child, Youssou N’Dour, Timbaland, Norah Jones, Queen, Carlos Santana, Missy Elliott, R.Kelly, Earth Wind & Fire, Mary J. Blige, Patti LaBelle, Sizzla, Serj Tankian von System Of A Down, Cyndi Lauper, Bounty Killer, Sly & Robbie, Darkchild, Tom Jones, Yellowman, Machel Montano, Mavado, Beenie Man und ziemlich genau jedem Rapper gearbeitet, der einem so einfällt. Er hat zwei Stiftungen gegründet und seinem Heimatland Haiti mehr zurückgegeben als nur das Gefühl, mit ihm gemeinsam den Weg nach oben gegangen zu sein. Er hat die Fugees 2004 noch einmal zusammengeführt, für einen Aufritt bei Dave Chappelles “Block Party”, und er hat aufgehört, die Kuh zu melken, als er merkte, dass die Milch (i.e. die seltsam hüftsteife 2005er-Single zur Comeback-Tour “Take It Easy”) sauer schmeckte. Er unterhält noch immer zwei Labels, Sak Pasé Records und Carnival House Records, und hat unlängst unter dem Alias Toussaint St. Jean ein Mixtape mit DJ Drama veröffentlicht, auf dem er sich nicht uncharmant einer neuen Generation von Rapfans vorstellt. Derzeit bastelt er mit Jerry Wonder an der Fertigstellung seines neuen Soloalbums “Wyclef Jean”.

When We Were Kings” hieß ein Film über Muhammed Alis legendären Trip nach Zaire, zu dem die Fugees einst den Titelsong aufnahmen. Als wir Könige waren.

Die Fugees werden immer Könige bleiben.

Text: Davide Bortot

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